Mikroorganismen verstehen (2):
Die Persönlichkeit im Darm
Im vorigen Artikel habe ich die vielfältige und faszinierende Bedeutung von Mikroorganismen für das Leben auf der Erde dargestellt. Viele der Funktionen, die wir größeren Lebensformen oder ihren Organen zuschreiben, werden im Praktischen von Mikroorganismen ausgeübt, die sich auf den ganz speziellen Lebensraum angepasst haben und so zum effektiven Bestandteil dieser Lebensform geworden sind.
Beobachten wir zum Beispiel die wasserreinigenden Eigenschaften eines Feuchtgebietes oder einer Pflanzenkläranlage, so geschieht die Filterung hier durch das Wurzelnetz der Pflanzen, die Verarbeitung der gefilterten Substanzen jedoch durch die Mikroben, die den feinen Würzelchen anhaften und deren Zulieferer für Nährstoffe sind. Man spricht von Symbiose, eigentlich handelt es sich um einen integrierten Bestandteil des Organismus. Das ist einfacher zu verstehen, wenn wir auch ein Individuum, einen Organismus, als ein Ökosystem wahrnehmen, als intelligente Kollaboration mit Puffersystemen und vielfältige Methoden der Selbststeuerung.
Jeder von uns ist so ein Ökosystem
Abgesehen von den vielen körpereigenen Einzelzellen zB in unserem Blut, sind auch unsere Organe Zusammenschlüsse von Zellen, die entsprechend der benötigten Funktion spezialisierte Mikroklimate erschaffen. Stammzellen bezeugen nach wie vor die Fähigkeit zur Diversifikation innerhalb des Organismus. Die Funktionen unseres lebendigen Körpers schließen die Beteiligung von Mikroorganismen mit ein. Deren Anzahl übersteigt die der „eigentlichen“ Körperzellen um ein bis zu Hundertfaches. In und auf uns leben allein ca 2000 verschiedene Arten von Bakterien, die ca 1-3% unseres Körpergewichts ausmachen. Diese Arten sind funktionell und spezifisch für sowohl das Umfeld als auch den Menschenstamm, weshalb man anhand von mikrobiellen Untersuchungungen Rückschlüsse auf die Migration von Völkerstämmen ziehen kann. [1]
Aber da hört es nicht auf: Wissenschaftler haben inzwischen selbst die Verknüpfung von unserer Mikropopulation mit unserer Stimmungslage und Verhalten beschrieben:
Studien an Mäusen verdeutlichen, wie die Besiedelung mit spezifischen Mikrobenstämmen im Darm, im Vergleich zu ihrem Fehlen, zu unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen führt.
Die Mäuse zeigen nämlich eine gewisse artspezifische Vorsicht und Bevorzugung von geschützten Aufenthaltsorten. Im Experiment wurden sie in ein Labyrinth mit teilweise geschlossenen, teilweise offenen Gängen gesetzt. Erwartungsgemäß mied die Kontrollgruppe von „normalen“ Mäusen mit ihrer spezifischen Darmflora die offenen Gänge, während jedoch eine Gruppe von „entkeimten“ Mäusen viel weniger Vorsicht und mehr Bereitschaft zum Entdecken zeigte. [2] [3] [4]
Eine weitere Studie zeigt, dass artspezifische Verhaltensweisen verschiedener Mäusegruppen offenbar in direktem Zusammenhang mit ihrer Mikrobenflora stehen, denn nach Entkeimung und Austausch dieser Mikrobenflora wechseln diese Eigenarten des Verhaltens! [5]
Kann man da sein Ich und seine Persönlichkeit wirklich noch von dieser Flora abgegrenzt sehen?
Unsere Mikroben – Helfer durch dick und dünn
Von der META-Health wissen wir, wie umfassend Körper, Psyche und Umfeld korrelieren. Mikroorganismen haben in der Verarbeitung von Konflikten und tramatischen Erlebnissen nicht nur auf körperlicher Ebene, sondern für den ganzheitlichen Gesamtorganismus ihre Bedeutung. Mikroben werden für Auf- und Abbauprozesse von funktionsverstärkendem Gewebe benötigt. Dazu gehören auch Prozesse, die traditionell noch als pathologisch eingeordnet werden, wie der Abbau von entodermalem Tumorgewebe durch Tuberkel- / Mykobakterien. Das ist ein natürlicher und intern gesteuerter Vorgang, der nur dann therapiebedürftig wird, wenn der Prozess durch ungünstige Bedingungen eskaliert! Denn der intelligente Organismus steuert die Aktivität seiner Mikroben über das interne Milieu, das er dynamisch verändert. Dabei ist er in der Lage, verschiedene Mikroorganismen einander begrenzen und kontrollieren zu lassen. Gesteuert wird das durch das psychobiologische Erleben und Verarbeiten von Konflikten im Ökosystem. Das bedeutet, Mikroorganismen werden vom Körper „eingefangen“, aufgenommen oder produziert, sobald ein biologisches Programm gestartet wird, das ihre Anwesenheit im späteren Stadium notwendig macht.
Von diesen intelligenten Wechselwirkungen werden durch wissenschaftliche Studien nun immer mehr erkannt und erforscht. Ein Beispiel ist die Erkenntnis von Theofilos Poutahidis et al, dass anwesende Lactobakterien des Typs Lactobacillus reuteri zu optimierter Wundheilung führen [6]. Dies geschieht über die Erhöhung des Oxytocinspiegels, eines Neuropeptidhormons in Zusammenhang mit Sozialverhalten und Reproduktion, das über den Vagusnerv vermittelt wird.
Die Einnahme des gleichen Bakteriums führte in einem weiteren Experiment von Theofilos Poutahidis et al zu erhöhter Fruchtbarkeit durch erhöhte Spermienproduktion, Hodengröße und Anzahl der vorhandenen Leydig-Zellen (der hauptsächlichen Bildungsstätte für Testosteron). Typische mit Testosteronreduktion und Entzündungsreaktionen verknüpfte Alterungsprozesse wurden im Experiment durch Versorgung mit Lactobacillus reuteri gestoppt und sogar rückgängig gemacht. [7]
Probiotics, unser Mikrobenprofil und Programmierungen
Die Dissertationsarbeit von Gabriela Sinkiewicz von der Universität Malmö „Lactobacillus Reuteri in Health and Disease“ beschäftigt sich mit dem natürlichen Vorkommen dieses Bakteriums in der menschlichen Muttermilch, Speichel und Darm sowie mit dessen Einfluss auf die Gesundheit. Erwartungsgemäß tritt dieses Bakterium nicht bei allen Menschen natürlich auf, sondern bei ca 15%, bei Landbevölkerung häufiger als bei Stadtbewohnern. Dies mag auf langfristige Ernährungsgewohnheiten zurückzuführen sein. Während die regelmäßige Einnahme von Lactobacillus Reuteri in der Studie (durch Kauen von infiziertem Kaugummi) positive Effekte auf vorliegende Zahnfleischentzündung zeigte, wurde aber keine langfristige Änderung in Mund- und Darmflora der Probanden festgestellt. [8]
Wie kann man diese Testergebnisse interpretieren?
Offensichtlich kommt es für die Assimilation des entsprechenden Bakteriums sowohl auf das Vorkommen im Ökosystem/Lebensumfeld der Probanden an, als auch auf deren Aufnahmebereitschaft! Diese hängt sowohl von Bekanntschaftsfaktoren und Gewöhnung ab (Ernährungsgewohnheiten), als auch von den oben besprochenen Bedürfnissen innerhalb autonom ablaufender Prozesse der Selbsterhaltung.
Studien haben auch gezeigt, dass die Darmflora von Patienten mit Chronischem Müdigkeitssyndrom (CFS) üblichgerweise einen geringen Spiegel von Bifidobakterien aufweist, und dass, nach 2monatiger Gabe von koloniebildenden Lacto- und Bifidobakterien, sich die Darmflora regenerierte sowie die Angstreaktionen im Test signifikant abnahmen. [9] Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei dieser Art Reaktionsmuster (CFS ist kein eindeutiges Krankheitsbild, sondern eine Ansammlung mehr oder weniger typischer Symptome) der Körper aufnahmebereit für die Bakterien ist, soweit sie ihm angeboten werden. Hier sind die typischen Symptome, von denen für eine CFS-Diagnose mindestens 4 zutreffen müssen:
- Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses oder der Konzentration
- Halsschmerzen,
- empfindliche Hals- und Achsellymphknoten,
- Muskelschmerzen,
- Schmerzen mehrerer Gelenke ohne Schwellung und Rötung,
- Kopfschmerzen eines neuen Typs, Musters oder Schweregrades,
- keine ausreichende Erholung durch Schlaf,
- Zustandsverschlechterung für mehr als 24 Stunden nach Anstrengungen.
Diese Symptome sind ohne Ausnahme als Bestandteile von gestörten und daher rezidivierenden Regenerationsphasen zu identifizieren.
Regeneration erfordert hochwertige Nährstoffe, die durch die Darmflora aufgeschlüsselt werden. Daher ist der betroffene Organismus rezeptiv für geeignete Bakterien, wenn sie ihm angeboten werden. Der Zusammenhang von CFS mit Ängsten mag einen Schlüssel für das vorliegende Rezidivmuster darstellen: ein denkbares Szenario wären wiederkehrende Selbstwertkonflikte zB im Arbeitsmilieu, die sich auf Muskeln und Gelenke auswirken. Im täglichen Leben werden diese gelöst oder sublimiert, aber die Angst um den Arbeitsplatz oder die Familie lässt es nicht zu, sich den notwendigen Regenerationsphasen hinzugeben. Dieses Muster lässt sich also möglicherweise durch ein optimiertes Nahrungsangebot inklusive Laktobakterien verändern.
Dagegen verwundert die Wissenschaftler die Erkenntnis, dass gerade eine gesunde Darmflora an Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose beteiligt zu sein scheint [10]. Das Verständnis der META-Health, das Krankheit und die Aktivität von Mikroben grundsätzlich als einen biologisch sinnvollen und vom intelligenten Organismus selbstgesteuerten Prozess sieht, bietet hier eine Erklärung an: sogenannte Autoimmunerkrankungen sind biologische Konfliktrezidivmuster, die Strategien beinhalten, den Organismus vor potentiellen Bedrohungen zu warnen und ihn zu wappnen. Das Programm im Gehirn (Im Versuch entsprechend die genetische Veränderung) veranlasst diese Strategie und bedient sich der gesunden Ausrüstung – der Darmflora – als Vermittler von Signalen. Die Lösung für Betroffene liegt also in der Veränderung der Programmierung im Gehirn und damit der Erhöhung ihrer Resilienz.
Kommunikation zwischen Psyche, Gehirn und Organ
Wie und wann geschieht nun natürlicherweise diese Besiedelung mit unseren spezifischen Mikroben, und welche Bedeutung hat diese für unsere Ausstattung mit Ressourcen und Resilienz? Untersuchungen von Maikäferdärmen im sterilen Larven- wie im Erwachsenenstadium legen nahe, dass ein Teil der Mikroflora tatsächlich schon im Frühstadium vorhanden ist [10]. Die vorwiegende Besiedelung geschieht bei und nach der Geburt, und ist nachhaltig [11]. Gemeinsam mit der Darmbesiedelung prägen sich das zentrale Nervensystem und das neuroendokrine System aus, die empfänglich für Distresserlebnisse sind [12]. Der Vagusnerv wurde als Kommunikationsweg der Darm-Gehirn-Achse in beide Richtungen identifiziert [13]. Die Ergebnisse dieser Studien belegen das in der META-Health bekannte Zusammenwirken von Gehirn, prägendem Erleben, Organfunktion und Mikroben sowie dem vegetativen Nervensystem als Vermittler zwischen diesen.
Die Übersicht zeigt, dass emotionale – und Verhaltensmuster sowie Resilienz durchaus in Zusammenhang mit unserer individuellen Mikrobenflora zu sehen sind. Deren Grundausstattung wird vorgeburtlich durch den mütterlichen Organismus, dann mit der Muttermilch und mit den Erstkontakten während der Entwicklungs- und Prägungsphase von Darmflora, Nervensystem und Gehirn geliefert. Zu späteren Zeitpunkten braucht eine langfristige natürliche Veränderung dieses Anteils unserer Persönlichkeit längere Zeit und Gewohnheit, ist aber möglich. Konsequente Gaben von Probiotika können gezielt eingesetzt werden, um Verarbeitungsprozesse im Verdauungstrakt temporär zu unterstützen, und um Stress- und Angstreaktionen über die Darm-Vagus-Gehirnachse zu dämmen.
Analog verhält es sich erfahrungsgemäß mit Distresserleben und Konfliktmustern der Mutter und des frühen oder langwährigen sozialen Umfelds, die vom Kind – zusammen mit den zur Bearbeitung relevanten Bakterien- aufgenommen werden. Im Hintergrund aktuell erlebter Konflikte und entsprechender organischer Symptomatik stehen in einer überwiegenden Anzahl der Fälle Erlebnis- und Reaktionsmuster aus der frühen Kindheit, sowie übernommene Muster der Eltern. Durch erwünschte und geeignete Intervention auf ganzheitlicher Ebene können diese Muster korrigiert und ergänzt werden – von der neuralen Ebene über die Gehirn-Organ-Achse auf die das Erlebensmuster begleitende Organsymptomatik. Die Mikroben haben in jedem Heilungsprozess ihre Funktion.
[1] http://www.scinexx.de/dossier-563-1.html
[2] http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S001650851100607X
[3] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1365-2982.2010.01620.x/full
[4] http://www.chirurgie-portal.de/news/20121112-darmbakterien-einfluss-gehirnfunktion.html
[5] http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S001650851100607X
[6] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3813596/
[7] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3879365/
[8] http://dspace.mah.se/bitstream/handle/2043/10570/GS_dissertation.pdf?sequence=2
[9] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2664325/
[10] http://www.mpg.de/4613890/darmbakterien_loesen_multiple_sklerose_aus
[11] http://www.ice.mpg.de/ext/fileadmin/extranet/common/documents/PULS-CE/Newsletter21_de.pdf
[12] http://www.nature.com/nrgastro/journal/v9/n10/full/nrgastro.2012.165.html
[13] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1113/jphysiol.2004.063388/full
[14] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3179073/
Fotos:
Kora Klapp, Jens Buurgaard Nielsen, Janice Carr
Walter Reiner sagt:
So wie Probiotika positiv gezielt eingesetzt werden könnten, müssten dann wohl auch Antibiotika negativ auf unsere Verarbeitungsprozesse wirken.
9. März 2014 um 20:57
Kora sagt:
Ja Walter, und das ist ja auch ihr Ziel – da uns mitunter die Verarbeitungsprozesse lästig sind 😉 Denn wer will/darf sich heute noch mit Ruhe „auskurieren“?
Nur kann ja der Sinn nicht im Abstoppen oder Verhindern notwendiger Lebensprozesse liegen, sondern in ihrer Optimierung! Denn der Organismus ist in der Lage, die Aktivität seiner Mikroben selbst zu steuern und zu begrenzen, wenn er in einem intakten Ökosystem lebt, wo ihm die benötigten Substanzen und Informationen zur Verfügung stehen.
9. März 2014 um 21:29